Tagesflüchtlinge

Pfingsten habe ich eine neue Art Flüchtling kennengelernt. Es gab und gibt bei uns Flüchtlinge wie eh und je. Weil irgendwo Krieg ist. Das ist - wie eh und je - schrecklich. Marco ist nur teilweise Flüchtling. Oder ein Teilflüchtling. Genauer: Er ist Tagesflüchtling. Und Tagesflüchtlinge sind ganz anders. Nein, nein, Marco ist nicht einer von jenen, die den Tag Fliehen und etwa tagsüber im Park ihren Rausch ausschlafen, den sie sich nachts antranken. Marco schläft hingegen brav und vor einer neuen Tagesflucht ganze acht Stunden, bevor er einen Tag flieht. Meist an Sonn- oder Feiertagen. Marco hörte ich zunächst auf der Straße. Er stand mit seinem getunten Auto bei Rot vor der Ampel und zog die Blicke aller Ohren und dann Augen auf sich, weil sein ganzes Auto in einem einzigen dumpfen Ba-Beat zu vibrieren schien. Dumm-dumm-dumm-dumm- dumm... Marco schien die enorme Dezibelstärke auch nicht ganz allein auszuhalten zu können. Sein Teilungsbedürfnis dieses Krachs ohne jede Töne war deutlich, denn sämtliche Wagenfenster waren heruntergekurbelt und das Echo des Dumm-dumm brummte verlässlich von den Häuserwänden beider Straßenseiten herunter, die das Donnern nochmals untereinander zu einem wahrscheinlich eindrucks- vollen Halleffekt spiegelten. „Geil" sagte Dorothea bewundernd. Mein Kommentar war auch geil, wenngleich anders. Da Dorothea Marco kannte und ihm zugelächelt hatte, nahm ich mir die Freiheit und hetzte zur Ampel. Gerade noch rechtzeitig, um Marco in seine wirkungsvolle Akustik-Höllenhalle auf Rädern die herzliche Bitte hineinzubrüllen, er möge doch –„um Gottes Willen leiser stellen. Mindestens die Fenster hoch.“ War es die Erwähnung Gottes? War es Marcos Höflichkeit mir gegenüber, weil ich der Vater von Dorothea war? Jedenfalls fuhr er bei Grün an, um einige Meter später anzuhalten und auszusteigen. Mit laufendem Motor, der aber nicht zu hören war wegen des - na, Sie wissen schon. „Zuhause muss ich Rücksicht nehmen und lebe nur mit Walkman", erklärte mir Marco mit erhobener Stimme. Erhoben, nicht weil er aggressiv war, i wo. Es blieb ihm nichts anderes übrig bei seinem Dumm-dumm im Rücken. Im Betrieb darf ich mir den ganzen Tag die Scheißwerkzeugmaschinen anhören“, klagt Marco, „und am Hardausee oder Oldenstädter See ist auch alles verboten. Nachts bin ich schon wegen ruhestörenden Lärms angehalten worden. Solche Tage", jammerte Marco und zeigte auf sein dumm-dumm, dies ist hier die letzte Nische, wo ich noch hin kann. Pfingsten und Sonntag und so...Der freie Tag ist die letzte Fluchtmöglichkeit für solche wie Marco. Soll ich nun zu meinem Hausanwalt und mal nachfragen, ob Marco eigentlich Recht hat. Ist da eine Rechtsnische? Vermutlich gibt es aber schon eine Bürgerinitiative, die Marco und den Seinen Asyl gewährt. Und wenn nicht. Marco, dann gründe eine. Vielleicht „Förderverein für die akustisch Vertriebenen (FAV)"?

06. Juni 1995